Als der erste Friedens-Nobelpreis im Jahre 1901 an Henri Dunant verliehen
wurde, lebte dieser - so gut wie von der Welt vergessen - schon vierzehn
Jahre unter bescheidensten Verhältnissen in dem Bezirkshospital in
Heiden im schweizerischen Kanton Appenzell-Außerrhoden. Selbst seine
Mitinsassen kannten den großen hageren Greis mit dem langen weißen
Prophetenbart kaum näher. Und doch hatte das Lebenswerk des "Einsiedlers
von Heiden" inzwischen weltweite Ausmaße gewonnen.
Ein einziger Tag war es gewesen, der dem Leben dieses Mannes eine neue
Richtung gegeben hatte, der ihn zu einem der großen Barmherzigen
Samariter machte und ihn auf einen Weg wies, den er nicht gesucht hatte.
Dieser Tag war der 24. Juni 1859.
Henri Dunant, Geschäftsmann aus Genf, damals einunddreißig
Jahre alt, Nachkomme einer hochangesehenen und vermögenden Patrizierfamihe,
war am Vorabend in das lombardische Städtchen Castiglione gekommen.
Er war dem französischen Kaiser Napoleon III. nachgereist und wollte
die erste sich bietende Gelegenheit nutzen, um diesem eine Denkschrift
zu überreichen und ihn um Konzessionen für seine geschäftlichen
Unternehmungen in Algier zu bitten.
Statt eine Audienz beim Kaiser zu erhalten, wurde er unfreiwilliger
Zeuge der furchtbaren Schlacht, die im Morgengrauen anbrach. Napoleon III.
hatte sich im Kampf gegen Österreich auf die Seite der italienischen
Einigungsbewegung gestellt. Die verbündeten Franzosen, Sarden und
Piemontesen waren bereits am 4. Juni bei Magenta siegreich gewesen, und
nun sollte die Entscheidung um den Besitz der Lombardei fallen. "Fünfzehn
Stunden lang kannten 300000 Menschen kein höheres Ziel, als mit Kugel,
Bajonett, Gewehrkolben oder würgenden Händen andere Menschen
zu töten"
Als am Spätnachmittag
die Verbündeten die Höhen von Solferino gestürmt hatten
und der österreichische Kaiser den Rückzugsbefehl geben mußte,
fand das Gemetzel endlich ein Ende. Mehr als 30000 Tote und Verwundete
deckten das Schlachtfeld.
Für den Mann aus Genf, der eigentlich nach hier gekommen war,
um Geschäfte zu machen, trat jetzt alles hinter der einen Aufgabe
zurück, den leidenden Opfern des Sieges zu helfen. Obwohl ihn zuerst
der Ekel vor all dem Entsetzlichen, das sich seinen Augen bot, schüttelte,
griff er beherzt zu, spendete Trost, schrieb letzte Grüße auf.
Und bald wurde aus dem Einzelhelfer der Organisator. Wie ein Wunder war
es, dass er immer mehr helfende Hände fand, die sich freiwillig
seiner Autorität unterordneten: lombardische Frauen, Mädchen,
Kinder, Priester, englische Touristen, ein Belgier, ein Schwede, ein Deutscher
- die erste internationale Hilfstruppe.
Es gelang Dunant, von den Franzosen gefangene österreichische
Ärzte freigestellt zu bekommen. Er richtete Behelfsspitäler ein,
ließ auf seine Kosten Verbandsmaterial, Obst und Tabak herbeischaffen
und Freund und Feind gemeinsam pflegen. Ein Ausspruch wurde zur Losung
dieser Tage: "Tutti fratelli" ("Alle sind Brüder"). Und dennoch starben
noch unendlich viele Verwundete, weil nicht genügend Hilfskräfte
zur rechten Zeit verfügbar waren. Das Gefühl der großen
Hilflosigkeit vor diesem Massen-elend ließ Dunant nicht mehr los.
In seinem Buch "Eine Erinnerung an Solferino" schrieb er sich später
das Erlebte vom Herzen. Und hier stellte er auch die Frage: "Wäre
es nicht möglich, schon im Frieden in allen Nationen Hilfsvereine
für die Verwundeten des Krieges zu gründen?" Er dachte bereits
an ein gemeinsames Abzeichen der Helfer und den Status der Unverletzlichkeit
für diese und
schlug einen internationalen Kongress vor, der verbindliche Übereinkünfte
treffen sollte.
Der Appell Dunants fand Gehör. Der Gedanke, in der militärischen
wie in der zivilen Krankenpflege freiwillige Helfer einzusetzen, war zwar
schon vor ihm aufgekommen, und besonders die Engländerin Florence
Nightingale (1820 bis 1910) hatte sich hier als leuchtendes Vorbild gezeigt,
aber der Plan der Internationalisierung der Hilfsdienste und des völkerrechtlichen
Schutzes der Verwundeten und ihrer Helfer sowie der Gefangenen war das
Werk Dunants. In dem Genfer Juristen Gustave Moynier und dem schweizerischen
General Guillaume Henri Dufour fand er dabei besonders aktive Mitstreiter.
Unermüdlich reiste er in Europa von Regierung zu Regierung und konnte
im Oktober 1863 das Zustandekommen der ersten Genfer Konferenz als seinen
Erfolg verbuchen. Hier einigte man sich auch auf das gemeinsame Symbol:
das Rote Kreuz im weißen Feld.
Ein Jahr später unterzeichneten zwölf europäische Staaten
die erste Genfer Konvention. Damit hatte die Bewegung, die von Solferino
ausgegangen war, ihre völkerrechtliche Verbindlichkeit erhalten und
Genf war zum Sitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz geworden.
Weitere Vereinbarungen folgten.
Heute sind die Genfer Abkommen von nahezu sämtlichen Staaten der
Welt ratifiziert. Das Rote Kreuz wurde zum größten Hilfswerk
in Krieg und Frieden. Eine gewisse menschliche Tragik für Henri Dunant
lag darin, dass ihm sein Werk lange vor seinem Tode "davonlief", sich
ohne ihn weiterentwickelte - sein Werk, von dem Theodor Heuss sagte: "Henri
Dunant hat Geschichte gewirkt, wenn nicht Menschheitsgeschichte, so doch
Geschichte der Menschlichkeit. Er hat ein Symbol geschaffen, das Rote Kreuz,
und mit ihm eine Trostkraft für Millionen."