Homer
berühmt durch Ilias und Odyssee

Die alten Griechen empfanden ihren Homer als den Dichter schlechthin, Goethe beispielsweise ist stark von "Ilias" und "Odyssee" angeregt worden, und heute gibt es wohl kaum eine Hochsprache, in der man diese beiden Epen nicht lesen könnte. Das also ist sicher:
Neben Dantes "Göttlicher Komödie", neben den Dramen Shakespeares gelten uns die altgriechischen Heldenlieder, die Homer zugeschrieben werden, als absolute Höhepunkte der Weltliteratur. Sie haben "aufs nachhaltigste Menschentum und religiöse Vorstellungen der Griechen geprägt", auf denen das europäische Menschentum fußt.
Sonst aber ist sehr vieles unsicher. Über das Leben dieses Homer ist so wenig Beweisbares bekannt, dass die neuere Literaturwissenschaft ihn eine Zeitlang für eine legendäre Figur hielt. Und lange wogte der Streit hin und her, wie viel Autoren man für "Ilias" und "Odyssee" wirklich annehmen müsse.
Heute ist man sich wieder darin einig, dass Homer wirklich gelebt hat. Seine Heimat lag nicht im eigentlichen Griechenland, sondern jenseits des Ägäischen Meeres im ionisch-äolischen Kleinasien - und zwar ein Stück südlich jenes Gebietes, das einst Schauplatz des Trojanischen Krieges gewesen ist. Smyrna, so scheint es, war die Stadt, in der er im 9. Jahrhundert v. Chr. geboren wurde. Ein uns Unbekannter, der mit Pseudo-Herodotus bezeichnet wird, hat etwa zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Dichters eine "Vita Homen", eine Lebensbeschreibung Homers, verfasst. In ihr erzählt er unter anderem, die Bewohner des Ortes Neon Teichos hätten ihm noch einen Platz gezeigt, an dem Homer des öfteren gesessen und aus seinen Werken vorgetragen habe. Sie hätten diese Stätte ungemein verehrt. Dort habe eine Schwarzpappel gestanden, von der sie sagten, "sie sei ihnen erwachsen, seitdem der Melesigenes zu ihnen kam".

Melesigenes: das soll der ursprüngliche Name Homers gewesen sein. Er bedeutet "der vom Fluss Meles Herstammende" - von einem Fluss, der an Smyrna vorbeifloß. Die Mutter soll Kretheis geheißen haben. Über den Vater sind sich die Quellen weniger einig, es werden verschiedene Namen genannt. Plutarch behauptet sogar, er müsse ein Daimon gewesen sein, ein übermenschliches Wesen. In mehreren ionischen Städten gab es noch Jahrhunderte nach Homer Erinnerungen an ihn. Zur Insel Chios hatte er eine besonders enge Verbindung; und dort wirkten noch viele Generationen nach ihm die Homeriden, eine Schule von Dichter-Sängern, die Hymnen in homerischer Form schrieben und vortrugen. In einer dieser Hymnen ist von einem Dichter des felsigen Chios die Rede, dessen Gesänge alle unsterblich bleiben würden
- damit ist kein anderer als Homer gemeint. Es wird dabei von einem blinden Mann  gesprochen;  und  auch  der Pseudo-Herodotus berichtet, Homer sei lange von Blindheit bedroht gewesen und schließlich erblindet. Auf der KykladenInsel los ist dieser "blinde Sänger" gestorben, wohl im 8. Jahrhundert. Dort habe es auf einem Felsvorsprung sein Grab gegeben und sogar eine Inschrift:
"Hier birgt die Erde das heilige Haupt, den Ordner der Helden, den göttlichen Homer."
Was ist nun die bleibende Leistung dieses frühen großen Dichters gewesen, der über die Jahrtausende hin unvergessen blieb? Heute ist man ziemlich übereinstimmend der Ansicht, dass die "Ilias" von Homer gedichtet wurde. Dabei fußte er auf einer mündlichen, bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurückreichenden Überlieferung, die er dramatischer und weit kunstvoller gestaltete und, vor allem, entschieden vermenschlichte. Griechen und Trojaner werden gleichermaßen mit Anteilnahme und Sympathie geschildert;
der Dichter gestaltet die allen Menschen auferlegte Tragik. Großartige Frauengestalten treten bei ihm neben die Männer. Die "Ilias" behandelt nicht den ganzen Trojanischen Krieg, sondern nur eine Episode der Belagerung der Stadt: den Zorn des Helden Achill, weil man ihm das Mädchen Briseis wegnahm. In diesem Ausschnitt, der nur etwa fünfzig Tage dauert, spiegelt sich aber das übrige ein Jahrzehnt währende Ringen so anschaulich, dass der Leser an dem ganzen Krieg teilzunehmen glaubt. Die meisterliche Gestaltung macht den unvergänglichen Wert des Werkes aus. Dabei fand Homer wohl nicht schon ausgereifte Dichtungen vor, von denen er hätte lernen können, sondern er selbst stand am Anfang und leistete gleich Einzigartiges.
dass auch die "Odyssee" von Homer stammt: diese Ansicht wird heute nur noch von wenigen vertreten. Man geht davon aus, dass dieses Werk etwa eine Generation später entstand und von einem Autor gedichtet wurde, der ganz im Geist und Stil Homers schrieb, also ohne das große Vorbild so nicht denkbar ist. Die "Odyssee", die Geschichte der langen Irrfahrten des Odysseus auf dem Heimweg von Troja nach Ithaka, ist einfacher, eingängiger gestaltet, aber keinesfalls weniger wirkungsvoll. Karl Kerenyi nannte das Epos den "ersten Roman der Weltliteratur, der sozusagen alle späteren im Keim enthält". Und einer der bedeutendsten  modernen  Schriftsteller,  James Joyce, bekannte, dass ihm das Thema der "Odyssee" größer und menschlicher erscheine "als dasjenige von Hamlet, Don Quijote, Faust . .
So findet jene Dichtung, die Homer am Anfang aller europäischen Literatur im frühen Griechenland schuf und die wenig später ganz in seinem Sinne und mit seinem Können fortgesetzt wurde, auch in unseren so andersartigen Zeiten noch die größte Bewunderung.
 
 

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