Er war eine außergewöhnliche und Aufsehen erregende, eine
in Charakter und Taten zugleich gradlinig-klare und widersprüchliche
Erscheinung: fintenreicher, bisweilen skrupelloser Politik kriegerischer
Haudegen und Feldherr mit beständiger Fortune, weitsichtiger Staatsmann,
brillanter Organisator u Krisenmanager, verständiger Förderer
von Kunst und Gelehrsamkeit.
Imponierend war auch das Äußere: reichlich 1,90 m groß,
überragte er die meisten seiner Zeitgenossen beträchtlich. Der
nach Schilderungen seines Hofbiographen Eginhardt derb und wucht wirkende
Mann, mit mächtigem Rundschädel auf breitem kurzen Nacken, strotzte
vor Vitalität und Dynamik. Er wurde 72 Jahre alt und übertraf
in der Lebensdauer den zeitgenössischen Durchschnitt bei weitem.
Nationen und Nationalstaaten im heutigen Sinne, wie Deutschland und
Frankreich, waren zu seiner Zeit nicht einmal denkbar, aber zu beiden hat
er den Grundstein gelegt. Als Karl der Große und Charlemagne wird
er von diesen Ländern ohne Streit vaterländischer Gefühle
in Anspruch genommen. Sollte es je zu einer "Wiedervereinigung" der europäischen
Völkerfamilie kommen, in ihm hat sie einen symbolkräftigen Ahnherrn.
Es war kein schlechtes Erbe, das Karl (742 bis 814)768 antrat. Unter
dem Herrschergeschlecht der Merowinger hatte sich der westgermanische Stamm
der Franken weit über seine von Lothringen bis Flandern reichenden
rheinische Kernlande ausgedehnt, vor allem nach Westen. Ihren Höhepunkt
erreichte die merowingische Macht unter Chlodwig (482 bis 511). Dessen
Nachfolger vernachlässigten die Regierungsgeschäfte über
dem ganzjährigen Zug des Hofstaates von Pfalz zu Pfalz.
Es war die Hofbeamtenfamilie der Karolinger, die unterdes zu den Zügeln
der Macht griff, und es geschah der seltene Fall, dass aus drei aufeinander
folgenden
Generationen bedeutende Herrschergestalten hervorgingen. Da gab es zunächst
den unehelich geborenen Karl Martell (689 bis 741). Den von Spanien her
andrängenden Arabern lieferte er 732 bei Tours und Poitiers die erste
erfolgreiche Abwehrschlacht des christlichen Abendlandes gegen den Islam.
Von seinen Söhnen ging der eine, Karlmann, in ein Kloster, das
später Monte Cassino hieß. Der andere, Pippin (714 bis 768),
verstand sich glänzend auf Alleinherrschaft und Staatsgeschäfte.
Den letzten Merowingerkönig jagte er davon. Mit einigen siegreichen
Schlachten zum Schutz des Papstes leitete er die das ganze spätere
Mittelalter prägende Verbindung von weltlicher und geistlicher Gewalt
ein.
Im Alter von 26 Jahren wurde Karl zusammen mit seinem jüngeren
Bruder Karlmann fränkischer Thronfolger. Eine Krise schien vorprogrammiert,
denn so brüderlich, wie es das Sprichwort meint, dürften sie
sich das Reich auf Dauer wohl nicht geteilt haben. Erst nach dem Tod des
Bruders (771) konnte der nun fast 3ojährige die Herrschaft übernehmen.
Diese Herrschaft ist eine nahezu ununterbrochene Abfolge von historisch
"relevanten" Ereignissen. Rastlos zu neuen Schauplätzen eilend und
selbst neue Schauplätze herstellend, vergrößerte er, von
christlichem Sendungsbewusstsein durchdrungen, das Reich der Franken
und dessen Einflusssphäre, die schließlich von der Odermündung
bis Barcelona, von der Nordsee- und Atlantikküste bis an die Grenzen
des Herzogtums Neapel reichte. Unter dem gemeinsamen Dach christlichen
Glaubens verschmolzen römisch-antike, gallische und germanische Elemente
zum Kern einer neuen abendländisch-europäischen Kultur.
Dieses gleichsam im Zeitraffer geführte Leben Karls des Großen
kann nur als knapper Abriss nachgezeichnet werden. Da sind zunächst
seine fast ausnahmslos siegreich beendeten Vielfrontenkriege. Den Unterwerfungen
folgten klug inszenierte Versöhnungen, der Aufbau von Bindungen und
die mehr oder weniger feste Integration der Besiegten in das organisatorische
Gefüge des Reiches.
In einem mehr als 3ojährigen Krieg von 772 bis 804 beendete er
die jahrhundertelangen Grenzkämpfe zwischen den
Nachbarstämmen der Sachsen und Franken. Gegen die immer wieder aufständischen,
nur mit Gewalt zu Christentum und kirchlicher Steuer, dem "Zehnten", bekehrbaren
"Erbfeinde" unter ihrem Herzog Widukind war er ohne Erbarmen. Seinem blutigen
Strafgericht von Verden an der Aller in Niedersachsen fiel ihre gesamte
Oberschicht zum Opfer.
Familiäres war im Spiel, als er sich zwischen 773 und 774 die
christlichen Langobarden im nördlichen und mittleren Italien untertänig
machte. Sie hatten den Papst zwingen wollen, die Söhne seines verstorbenen
Bruders zu Königen zu salben. Den Langobardenfürsten Desidenus
verbannte er ins Kloster.
Weniger erfolgreich war der 778 begonnene Feldzug über die Pyrenäen
nach Spanien, wo er Spaltungsbewegungen unter den islamischen Arabern für
sich zu nutzen gedacht hatte. Immerhin konnte er das Grenzgebiet 795 durch
die Errichtung der bis Barcelona reichenden "Spanischen Mark" absichern.
In mehreren "Slawenkriegen" machte er zwischen 789 und 812 Wilzen,
Sorben und Tschechen zu Untertanen, verzichtete aber auf Missionierung.
Zur selben Zeit 779 bis 796 besiegte er die ins Österreichische
und in das Gebiet von Friaul drängenden Awaren, ein den Hunnen verwandtes
Nomadenvolk.
Neben dem oströmisch-christlichen Byzanz und dem islamischen Kalifat
war im europäischen Vakuum nach dem Niedergang des Römischen
Imperiums ein neues Machtgebilde von universaler Bedeutung entstanden.
Aber am Bosporus war man nicht - noch nicht - gewillt, den Emporkömmling
aus dem barbarischen Norden als gleichberechtigt anzuerkennen. Das aber
wollte Karl, nicht mehr und nicht weniger. In diesem Spannungsfeld, mit
dem Papst als dritten Faktor, hat auch die Krönung zum Kaiser beim
Gottesdienst am Weihnachtstag des Jahres 8oo ihren Platz. Als Ausweis der
Gleichstellung mit dem Kaiser von Byzanz hat Karl diese Krone wohl selbst
gewünscht, aber die Umstände des päpstlichen
Überraschungscoups haben ihn, nach den Berichten von Augenzeugen,
aufs höchste verärgert.
Es mochte ihm gar nicht gefallen, dass der Schützling dem
Protektor die Würde verlieh, ihn also seinerseits verpflichtend band,
und dies auch noch in Rom, als sei hier die Reichshauptstadt. Vor allem
fürchtete er Verwicklungen mit Byzanz, die dann auch prompt ins Haus
standen. Der mächtige Gegenspieler betrachtete die Krönung als
Anmaßung und feindseligen Akt. Bei allem Selbst- und Macht- Bewusstsein:
Karl kannte seine Grenzen, und den großen offenen Kampf wollte er
meiden. Die diplomatischen, bisweilen kriegerische Formen annehmenden Verwicklungen
dauerten bis 812. Gegen den Verzicht Karls auf Venedig und Dalmatien erkannte
Ostrom im Vertrag von Aachen die Kaiserwürde endgültig an.
Tatkraft und Gestaltungswille Karls des Großen haben sich keineswegs
in Kriegshandlungen erschöpft, die er als Nötigungen empfand
- sei es zum Schutz oder zur Ausbreitung des Glaubens. Nicht weniger erfolgreich
und nachhaltig war sein Wirken bei der Organisation und gesetzgeberischen
Ordnung des Staatswesens. Die föderativ- dezentrale Gliederung, die
Vergabe von Königsgut als Lehen und die Gewährung erstaunlich
großer politischer und kultureller Selbständigkeit, auch für
die unterworfenen Stämme und die zur Sicherung der äußeren
Grenzen errichteten "Marken", trugen ihm viel Gefolgstreue ein. Wichtigstes
Kontrollorgan der kaiserlichen Zentralgewalt waren "Sendboten", stets
unterwegs und allgegenwärtig, die "jederzeit gegen alle und an allen
Orten den heiligen Gotteshäusern, den Armen, Unmündigen und Witwen
und dem ganzen Volk unverkürzt Gerechtigkeit gewähren sollen
nach dem Willen Gottes". Das Gerichtswesen war durch eine Fülle von
Gesetzen straff gegliedert.
Überall im Land ließ der Kaiser Kirchenprovinzen und Klöster
errichten, die mit dem Glauben auch die römisch-christliche Kultur
verbreiteten. Karl selbst sammelte Gelehrte und Künstler um sich.
Latein beherrschte er so gut wie seine fränkische Muttersprache. Sogar
den Schreibgriffel vermochte er der Überlieferung nach leidlich zu
handhaben.
Von seinen zahlreichen Residenzen, den "Pfalzen", entwickelte er Aachen
zur bedeutendsten. Sie wurde mit dem im Abendland einzigartigen Münster
zum sichtbaren Zeichen der Gleichstellung beider Kaiser. In Aachen hatte
Karl der Große mehr als zwanzigmal geweilt. Für den Alternden,
den Gicht und Rheuma plagten, wurde es zur festen Residenz. Die Thermalquellen
der Stadt und die Nähe zur stets unruhigen sächsischen Provinz
mögen dafür ausschlaggebend gewesen sein. In Aachen ist er 814
gestorben. Im Münster befindet sich sein Grab.
Karl der Große eroberte die meisten der Länder Westeuropas
und gründete das Heilige Römische reich. Die Bewohner der unterworfenen
Länder wurden zum Christentum bekehrt. Unter ihm entstand die erste
wirkliche Stielepoche des Mittelalters: die Karolingische Kunst.
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