Leonardo da Vinci

Er war schön, dieser junge Leonardo da Vinci, Maler in Florenz und zugleich einer der Playboys der Stadt. Das lange blonde Haar fiel ihm modisch bis auf die Schultern. Wenn er abends durch die belebten Gassen flanierte, allein zumeist, sahen sich die Frauen versohlen nach ihm um und versuchten, seinen Blick zu erhaschen. Er war dennoch bestenfalls freundlich zu ihnen, und keiner schien er sonderlich zugetan. Nur in seinen Bildern hat er sie später sehr geliebt.
Obgleich man auch das bezweifeln kann! Auf fast all seinen Frauengesichtern, die er malte,
es sind überdies sehr wenige; nur neun oder zehn, Engel eingeschlossen, sind uns erhalten geblieben -, liegt jenes sonderbare Lächeln, das etwa die "Mona Lisa" berühmt gemacht hat. Niemand hat dieses Lächeln bisher sicher zu deuten gewusst. Es könnten also auch die recht haben, die es doppelsinnig, zwielichtig,  hintergründig-falsch,  grausam nennen - und Leonardos Ansicht über die Frauen wäre daher kaum sehr schmeichelhaft. Auf alle Fälle war er ein Künstler, in dessen Leben die Frauen, unüblicherweise, kaum eine Rolle gespielt haben. Seine Geliebte wurde mit jedem Tag mehr die Kunst, am Ende gar die nüchterne Wissenschaft.
Ob hier ein Zusammenhang bestand? Eigentlich ist alles an diesem Menschen außergewöhnlich. Am 15. April 1452 im Dorf Vinci bei Empoh geboren, war er der uneheliche Sohn eines erfolgreichen Florentiner Rechtsanwalts und eines schönen Dorfmädchens. Er blieb zunächst in Vinci und wurde erst im Alter von fünf Jahren, als seine Mutter heiraten wollte, ins väterliche Haus nach Florenz gebracht. Aus dieser Zeit wissen wir nur wenig von ihm, lediglich, dass er wahrscheinlich eine Schule nur recht unregelmäßig besuchte und viel allein war. Fünfzehn Jahre alt, trat er dann, ganz sicher mit Hilfe seines Vaters, der die Begabung seines Sohnes erkannt hatte, in die Werkstatt des berühmten Malers und Bildhauers Andrea del Verrocchio ein, wo er schließlich 1472, zwanzig Jahre alt, in die Malergilde aufgenommen, das heißt als ausgelernter Künstler anerkannt wurde. Er hatte indes bei Verrocchio nicht nur das Malen erlernt. Der berühmte Meister war ein Mann von vielseitigen Kenntnissen und im Stil der Zeit praktischer Naturwissenschaftler. In seinem Atelier gingen die bekanntesten Männer der Zeit ein und aus, und wenn Leonardo später auf so vielen Gebieten tätig wurde, hat er sicherlich hier bereits die ersten Anregungen bekommen.
1482 verließ er Florenz und ging nach Mailand an den Fürstenhof der Sforza, wo er sich als Brückenbauer, Festungsbrecher, Seekriegsingenieur, Konstrukteur von unwiderstehlichen Geschützen, Schleudern und Kampfwagen, als Erbauer von Wasserleitungen und ganz allgemein als Architekt beworben hatte. Nur nebenbei, gleichsam sachlich, erwähnte er, dass er auch Maler, Bildhauer und Erzgießer sei.
Die Hervorhebung seiner technischen Fähigkeiten als Ingenieur hängt mit dem Zustand der Zeit zusammen.  Ganz Oberitalien war damals Kriegsgebiet, und die Kriegsherren verlangten mehr nach Kanonen als nach kunstreichen Bildern. Dennoch betätigte sich Leonardo in Mailand anfangs vor allem als Organisator von Festen, machte Musik, verfasste Gedichte, schuf Dekorationen für Ballette und  Theateraufführungen.  Nebenher malte er auch, unter anderem 1495 das berühmte „Letzte Abendmahl", das allerdings später nahezu unterging. Die Wände im Kloster Santa Maria delle Grazie waren feucht, so dass die Farbe abblätterte,  es  gab  Überschwemmungen, schließlich machten Napoleons Soldaten das Refektorium zu ihrem Pferdestall. Ähnlich erging es dem großen Reiterstandbild des Francesco Sforza, das Leonardo so riesig plante, dass man in ganz Italien davon zu sprechen begann. Als jedoch endlich der Guss beginnen sollte, wurde die vorgesehene Bronze für Kanonen verwendet, das Tonmodell später von den Mailand erobernden Franzosen zerschlagen.
Sein Hauptaugenmerk richtete Leonardo jedoch bereits in diesen Jahren auf die Naturwissenschaften. Es entstanden nach und nach jene berühmten über zehntausend Blätter mit Aufzeichnungen, die ein Kompendium all seines Wissens wurden. Man weiß nicht, zu welchem Zweck Leonardo sie zusammentrug: Wollte er eines Tages eine große Enzyklopädie der Wissenschaften schreiben? Er kam nie dazu und hat daran sehr wahrscheinlich auch nie gedacht. Er schloss sich in seine nächtliche Werkstatt ein und überdachte die Möglichkeit menschlichen Fliegens, aber er wusste sehr wohl, dass dergleichen nur der Zukunft, nicht schon ihm gehörte. Er setzte bei all seinen Entwürfen nicht nur Materialien voraus, die es damals noch nicht gab, sondern auch Technologien, die erst vierhundert Jahre später entwickelt wurden; ganz davon abgesehen, dass zu seiner Zeit zum Exempel niemand ernstlich daran dachte, zu fliegen. Außer Leonardo: der deswegen, um nicht noch mehr Narr zu sein, seine Forschungen und Träume in seine Papiere verschloss, geschrieben in kaum entzifferbarer Spiegelschrift.
Es ist unmöglich, alles zu nennen, was er betrieben und erforscht hat. Als Maler etwa will er wissen, wie der Mensch gebaut ist, wie seine Gliedmaßen, Muskeln, die Gelenke funktionieren. Er untersucht also, seziert, experimentiert, zeichnet. Er gießt heißes Wachs in Körperhöhlen, um deren Form feststellen zu können. Er entdeckt die Krümmung der Wirbelsäule, er zeichnet als erster den menschlichen Fötus in seiner richtigen Lage.
Im übrigen hat er - natürlich - auch die Technik der Malerei erneuert oder weitergeführt: Er erfand das sfumato, die weiche Malerei Ton in Ton, die jede harte Kontur auflöst und die Körper wie aus Licht modelliert aussehen lässt.
Er ist auch Optiker und entdeckt, dass die Luft das Licht absorbiert. Er arbeitet als Mechaniker und klärt, dass es unmöglich sei, das immer wieder versuchte "Perpetuum mobile" zu bauen. Er findet bei seinen Untersuchungen und Konstruktionen die Hebelgesetze, das Parallelogramm der Kräfte, die Abhängigkeit der Reibung von Druck und Oberflächenstruktur. Als er seine Flugapparate zeichnet, entdeckt er das Turbinenrad, eigentlich bereits eine Kraftmaschine. Für die Konstruktion der Flugapparate studiert er zuvor die Vögel und schreibt sein "Buch über den Vogelflug": Die damit verbundenen Untersuchungen über den Luftwiderstand, den Auftrieb, die Gleitfähigkeit, die Sog- und Wirbelbildung in der Luft sind Arbeiten, die auch noch lange nach ihm niemand in Angriff nahm und die Leonardo zu einem Vorläufer der modernen technischen Entwicklung machen, dessen Genie nicht erklärt, nur angestaunt werden kann.
Im Winter 1499 mußte er Mailand verlassen, flüchtend, da die Franzosen brandschätzend durch die Lombardei zogen und Mailand belagerten. Über Mantua und Venedig kehrte er in seine Vaterstadt zurück, wo er bis 1606 blieb. Zwischendurch allerdings diente er Cesare Borgia als Generalingenieur.
In dieser Zeit malte Leonardo sein berühmtestes Bild: die "Mona Lisa". Man weiß nicht, wer die Frau war, man weiß nur, dass es das großartigste Bildnis ist, das die europäische Malerei hervorbrachte. Als es 1962 mit der "France" nach Amerika reiste, um in Washington und New York ausgestellt zu werden, verzichtete man darauf, die außergewöhnliche Sendung zu versichern. Schon Franz J. hatte für das Bild, das Leonardo mitbrachte, die damals unbegreifliche Summe von 4000 Goldflorinen bezahlt, was heute gut eine Million Mark wären:
Mit wie viel Millionen sollte man den Wert des Bildes also heute beziffern (und die Versicherungsprämie)? So schickte man die Mona Lisa in einer Spezialkassette, die bei einem Brand nicht verbrannt und die bei einem Schiffsuntergang irgendwo heil und  unversehrt angeschwemmt worden wäre. Vier Beamte der Surete und drei Konservatoren des Louvre begleiteten und bewachten sie. Schon in den ersten zehn Tagen sahen eine Viertelmillion Menschen das Bild, sicherlich der Rekord, den je ein einzelnes Bild erzielt haben dürfte.
Ab 1506 war Leonardo auf Einladung der Franzosen wieder in Mailand und setzte hier in den alten Verliesen seine Studien fort. 1513 ging er zu Papst Leo X. nach Rom, wo er die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe plante. Als er sah, dass andere ihm vorgezogen wurden, vor allem Raffael und Michelangelo, nahm er die Einladung des französischen Königs Franz 1. an und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens auf dem kleinen schloss Cloux bei Amboise. Er hatte seinen Freund Melzi und andere Helfer mitgebracht, um seine Arbeit fortzusetzen, aber dann befiel seine rechte Hand eine Lähmung, er mußte resignieren. Am 2. Mai 1519 starb er, einsam, in fast allem, was er plante, gescheitert, dennoch einer der großartigsten Menschen, die je gelebt haben, mit seinen Entwürfen an die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten vordringend und zugleich, eben weil er ein Mensch war, scheiternd.
In der Kirche St. Florentin in Amboise hat man Leonardo bestattet. Sie wurde während der Französischen Revolution zerstört. Erbe seines riesigen Nachlasses war sein Schüler Francesco Melzi.
 
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